Sterben im Frühjahr

oder: Freie Fahrt für freie Buerger

26.05.1999


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So ist es denn soweit und der Tag des Fahrplanwechsels kommt bedrohlich nah. Wegen anderer Verpflichtungen kann ich nur heute noch einmal mit einer Ferkeltaxe von Eilsleben nach Haldensleben fahren. Also kurz entschlossen in Eilsleben ausgestiegen und hinein in das Ferkel nach Haldensleben.

Ferkel live: Hier trifft sich Tradition und Moderne. Der hölzerne Führerstand ist mit PZB, Zugfunk und EBuLa ausgerüstet!

18:05 Uhr. Langsam rumpelt das Ferkel los. Ich bin nicht der einzige Reisende: Viereinhalb weitere Fahrgäste zähle ich. Ein älteres Paar und ein weiteres, vermutlich mit der Enkeltochter.

Erxleben-Uhrsleben. Ein denkwürdiger Ort für mich. Diese Station war in den fünfziger Jahren für meinen Vater das Tor zur Welt. Ich erinnere mich an seine Fahrkartensammlung; dieser Ort war immer Ausgangspunkt. In wenigen Tagen wird das nicht mehr möglich sein. Heute sieht es hier so traurig aus, wie auf den meisten kleinen Stationen. Nur damit der Zugführer den anschließenden BÜ manuell sichern kann, muss der Triebwagen anhalten.

Auf dem freien Feld hoppeln mehrere Feldhasen. Das kleine Mädchen läuft aufgeregt durch den Wagen und kommentiert seine Beobachtungen lautstark. Im anschliessenden Gleisbogen wird wieder einmal deutlich, wie ein Bogen durch eine endliche Anzahl von Geraden angenähert wird...

Plötzlich verschwindet das Gleis in der Vegetation des Frühlings. Nur mit viel eisenbahnarchäologischem Gespür gelingt es mir zu erkennen, dass hier einmal Weichen lagen und schon sind wir in Nordgermersleben. Wir müssen einen Verkehrshalt einlegen: Einen Fahrgast verlangt es nach Beförderung!

In Schackensleben vollzieht sich reger Fahrgastwechsel: Zwei Aussteigende, zwei Zusteigende. Wie an vielen anderen Stationen stehen hier schöne, grosse Bäume, die die Tristesse des Empfangsgebäudes etwas zu übertünchen vermögen.

Hinter Hundisburg folgt ein BÜ, der mit 15 km/h befahren werden darf. Trotz gegebener Übersicht nimmt uns ein Kleinwagen die Vorfahrt. Nun, in Zukunft wird die Eisenbahn den Strassenverkehr nicht mehr stören.

Haldensleben Alt. Hier steigt das ältere Paar mit dem Mädchen aus; wieder steigen zwei Reisende zu, diesmal mit Fahrrad. Die Zugmeldung wird vollzogen, so dass wir bei Erreichen des Bf Haldensleben bereits Einfahrt haben. Das sind nun die letzten Meter, die ich während meiner allerletzten Fahrt auf dieser Strecke zurücklege.

Haldensleben. Ich steige aus dem Ferkel, Druckluft zischt, die Tür klappt zu. Langsam zuckelt das Wägelchen gen Betriebshof.

Lebe wohl, kleines Ferkel! Ich hoffe, du wirst nicht arbeitslos. Ich denke an dich und all die anderen Arbeitstiere, die auf den Strecken der Börde tagtäglich ihre Arbeit verrichteten. Die Autofahrer werden jubeln: Ab Sonntag kein lästiges Warten mehr vor geschlossenen Schranken, keine Bedrohung mehr auf ungesicherten Bahnübergängen. Freie Fahrt für freie Bürger!

Für die meisten jedenfalls.


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Autor: Uli M@schek, letzte Änderung am 13.06.2000