Eine kleine Weihnachtsgeschichte

Lange Zeit, bevor wir alle geschlüpft sind, begab es sich, daß der Kaiser eine Volkszählung befahl. Damals war das noch nicht so einfach wie heute, mit Computern, elektronischer und automatischer Erfassung der Volkszählungsbögen und deren Auswertung. In jenen Tagen mußten sich alle Menschen zu ihrem Geburtsort begeben, wo sie dann gezählt, gewogen und registriert werden sollten.


Maria, eine freundliche Einzelhandelsverkäuferin, und Joseph, ein kleiner selbständiger Handwerker, über dem ständig das Damoklesschwert der Scheinselbständigenverordnung schwebte, machten sich also auf den Weg zum Bahnhof, um einen Zug in die Heilige Stadt Bethlehem zu erreichen. Da Joseph wirtschaftlich nicht so erfolgreich war und Maria die letzten Wochen aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht arbeiten konnte, wollten die beiden natürlich die billigste Fahrkarte lösen. Sie entschieden sich für das SchöneWollewirzähleTicket (SWT) der Damaligen Bahn (DB), das für nur 30 Silberlinge zu haben war.  Wenigstens konnte Joseph mit dem Kursbuch ordentlich umgehen. Er suchte eine Verbindung heraus, die es den beiden ermöglichte, mit nur zweimaligem Umsteigen das Ziel Bethlehem zu erreichen. 

Schon die Abfahrt gestaltete sich jedoch schwierig. Auf dem großen Bahnhof in Jerusalem fuhr der PalästinaExpress mit eineinhalb Stunden Verspätung ab, da kein Heizer gefunden werden konnte, der den Sabbath schon beendet hatte - wie jeder weiß, wird kein orthodoxer Heizer am Sabbath eine Lokomotive entzünden. Die DB machte die übliche Fahrgastinformation (keine) und die Reisenden, die größtenteils wegen der Volkszählung durch die Lande schaukelten, wurden langsam ungeduldig am Bahnsteig.  Als der Zug endlich bereitgestellt wurde, strömten die Fahrgäste in Massen in die wenigen Waggons. Nach der verspäteten Abfahrt war es den meisten klar, daß sie nicht mehr am Tag der Reise am Ziel ankommen würden - es sei den, in Nazareth würde der IC freigegeben für das SWT. Der Schaffner war jedoch nicht zu bewegen, einen Anruf bei der Zugleitung zu machen, da die meisten Fahrgäste doch nur mit dem SWT unterwegs waren und es noch spätere Anschlußverbindungen gäbe. 

Natürlich war in Nazareth der Anschlußzug schon viele Minuten abgefahren und am ServicePoint erhielt Joseph nur die lapidare Mitteilung, daß er mit dem SWT ein Fahrgast vierter Klasse wäre und deswegen auf keinerlei Serviceleistungen Anspruch hätte. 

Maria war in dieser Beziehung etwas gewitzter. Sie sprach mit einigen Lokführern, die sich auf dem Bahnsteig tummelten, und organisierte für die Weiterfahrt eine Mitfahrt im Viehwaggon der privatisierten palästinensischen Eisenbahn, die sich in diesem Fall aufgrund des hochschwangeren Zustandes von Maria erweichen lies. Die Lokführer waren sogar so freundlich und gaben ihr etwas Extrastroh, wo sie ihren gebeutelten Körper ablegen konnte. 

Joseph und Maria fuhren so im Viehzug gemeinsam mit lauter koscheren Bullen in Richtung Bethlehem, als plötzlich der Zug anhalten mußte. Eine eingefrorene Weiche blockierte den Eisenbahnverkehr kurz vor Bethlehem. Vor lauter Aufregung, kurz vor dem Ziel noch einmal anhalten zu müssen, meldete sich das kleine Kindchen, von dem Joseph bis zu diesem Tag nicht wußte, wie Maria eigentlich schwanger werden konnte, wo er doch neun Monate vorher in Gaza auf Montage war. 

Die Wehen wurden immer stärker und über den Streckenfernsprecher war niemand mehr im Stellwerk zu erreichen, der vielleicht eine Hebamme auf die Strecke hätte schicken können. Alle Stellwerkswärter waren entweder mit dem Enteisen von Weichen beschäftigt oder hatten schon so viel Glühwein zum Weihnachtsfest getrunken, daß sie nicht mehr das Telefon abnahmen. 

So kam der kleine Jesus, der seinem Vater überhaupt nicht ähnlich sah, in einem Eisenbahnwaggon auf der Strecke nach Bethlehem zur Welt und wurde in den Strohhaufen gelegt, den der freundliche Mitarbeiter der privatisierten Eisenbahngesellschaft zur Verfügung gestellt hatte. In der Bahnhofsgaststätte des Bahnhofs kurz vor Bethlehem konnte Joseph noch ein Zimmer bekommen, für das die Damalige Bahn aber die Kosten nicht übernehmen wollte - schließlich seien die Fahrgäste in einem Güterzug der PPE unterwegs gewesen, das wäre nicht Schuld der DB, auch wenn die eingefrorene Weiche zum Geschäftsbereich Netz der DB gehört hatte. 

So mußten Maria und Joseph zu guter Letzt in der Bahnhofshalle übernachten, das Kind auf Stroh in einen der neuen Gittersitze gelegt. Morgens kamen als erstes Fahrgäste für den Vorortzug zum Markt in Bethlehem, die ihr zu verkaufendes Vieh gleich mitführten, und so standen in der Bahnhofshalle Ochs und Esel, Hirte, Schaf und Schäfer um das junge Paar mit dem kleinen Kind herum.

Jörg Jonas in de.etc.bahn.eisenbahn


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Autor: Uli M@schek, letzte Änderung am 10.01.2000