Hendrik Berth, TU Dresden
Die Angst der Wähler. Eine computergestützte inhaltsanalytische Untersuchung von Wahlkampfprogrammen deutscher Parteien zur Bundestagswahl 1998
Die Wahl im September 1998 war sicherlich ein bedeutender Schritt für die zukünftige Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Viele Wähler haben die Wahlprogrammen der angetreten Parteien kritisch unter die Lupe genommen und daraus ihre Wahlentscheidung getroffen.
Hier interessieren nun nicht die angesprochenen Inhalte und Ziele in den Programmen, sondern nur die Informationen, die sich aus der Tiefenstruktur der Texte erkennen lassen. Zum Einsatz kommen das Dresdner Angstwörterbuch (DAW), als Computerversion der Gottschalk-Gleser-Angstskalen, und das Dota-Verfahren nach Ertel (1972). Beide Verfahren können in diesem Rahmen nicht ausführlich vorgestellt werden. Zur Analyse wurde das Programm CoAn für Windows 2.0 © von Matthias Romppel verwendet.
Das analysierte Textmaterial sind die Wahlprogramme zur Bundestagswahl 1998 (nicht die Parteiprogramme) der folgenden Parteien: PDS, Bündnis 90/Grüne, SPD, FDP, CDU, DVU und NPD. Bedingung für die Aufnahme in diese Studie war die Möglichkeit, sich das jeweilige Wahlprogramm als Textdokument auf den WWW-Seiten der Parteien herunterladen zu können.
Zunächst fällt auf, daß die Wahlprogramme der Parteien sehr unterschiedlich hinsichtlich ihrer Länge sind:
Partei |
Anzahl der Worte |
NPD |
744 |
DVU |
1309 |
CDU |
8499 |
SPD |
15135 |
PDS |
15445 |
FDP |
24477 |
B90/Grüne |
33679 |
Die beiden rechten Parteien DVU und NPD haben die mit Abstand kürzesten Programme. Da sowohl das Gottschalk-Gleser-Verfahren als auch das Dota-Verfahren eine Relativierung bzgl. der Textgrößen vornehmen, ist die für die folgenden Analysen ohne Belang, spricht jedoch sicher für die Güte und inhaltliche Tiefe der in den Programmen getroffenen Aussagen.
Die sieben Wahlprogramme wurden zunächst einer Analyse mit dem Dresdner Angstwörterbuch (DAW) unterzogen, das die Angstwerte nach Gottschalk-Gleser bestimmt. Das Verfahren nach Gottschalk & Gleser und die Umsetzung in Form des DAW werden hier nicht dargestellt. Nähere Informationen und ausführliche Literaturhinweise findet man auf der Homepage zum DAW. Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse dieser Analyse:
Abb. 1: Angstwerte (Gesamtwert) nach Gottschalk-Gleser in den Bundestagswahlprogrammen 1998 der Parteien.
Die Programme der beiden rechten Parteien DVU und NPD weisen mit Abstand die höchsten Angstwerte (Gesamtwert) nach Gottschalk-Gleser auf (Mann-Whitney-U-Test, p<0.05). Auch bei Betrachtung der einzelnen Angstskalen (Todesangst, Verletzungsangst, Trennungsangst, Schuldangst, Angst vor Scham/Schande, Diffuse Angst) zeigt sich, daß zumindest eine der beiden Parteien den jeweils höchsten Score erzielt (Tabelle 2).
Partei |
Todesangst |
Verletzungsangst |
Trennungsangst |
Schuldangst |
Schamangst |
Diffuse Angst |
Gesamte Angst |
NPD |
1,19 |
1,40 |
2,36 |
2,45 |
1,00 |
0,93 |
4,06 |
DVU |
0,90 |
1,78 |
1,96 |
2,56 |
1,76 |
0,94 |
4,26 |
CDU |
0,53 |
1,35 |
1,85 |
2,05 |
1,74 |
0,69 |
3,63 |
FDP |
0,54 |
1,26 |
1,47 |
2,06 |
1,41 |
0,50 |
3,25 |
SPD |
0,45 |
1,49 |
1,65 |
2,10 |
1,51 |
0,89 |
3,55 |
PDS |
0,69 |
1,37 |
1,57 |
2,08 |
1,43 |
0,67 |
3,40 |
B90/Grüne |
0,68 |
1,53 |
1,55 |
2,09 |
1,34 |
0,34 |
3,39 |
Tabelle 2: Angstwerte nach Gottschalk-Gleser in den Wahlkampfprogrammen verschiedener Parteien zur Bundestagswahl 1998
Dieses Ergebnis kommt zustande durch solche Wahlkampfaussagen wie z.B.: "Die Mehrheit der Deutschen lehnt den Euro ab, die "Bonner" fürchten den Willen des Volkes." (aus dem Programm der NPD, diffuse Angst) oder "Einstige Wahlversprechen von Bonner Politikern sind gebrochen bzw. nie eingelöst ..." (aus dem Programm der DVU, Schuldangst). Eine Interpretation für diese Angstwerte ist, daß hier Wahlkampf mit den Ängsten und Befürchtungen der Wähler betrieben wurde.
Das Dota-Verfahren geht auf die Überlegungen Ertels (1972, 1981) zurück. Grundlage bei Ertel waren die Ausführungen von Rokeach (1960), der zwei unterschiedliche Denkstile postuliert: den dogmatoiden und den liberalen Stil. Ersterer zeichnet sich vor allem aus durch ein geschlossenes System von rigiden Überzeugungen, das sich auf wenige Grundprinzipien zurückführen läßt und sich von den Gegenüberzeugungen scharf abgrenzt. Dogmatoide Persönlichkeiten neigen zum extremen Schwarz-weiß-Denken, widersprüchliche Erfahrungen werden negiert oder in dieses geschlossene System eingebaut, Kritik und Kompromisse werden abgelehnt. Das Gegenstück dazu ist die liberale Persönlichkeit, offen und aufgeschlossen für neue Erfahrungen.
Ertel hat nun eine sprachstatistische Methode entwickelt, die anhand der Oberflächenmerkmale eines Textes Rückschlüsse auf solche dogmatischen oder nichtdogmatischen Züge ermöglichen soll. Er entwickelte ein Diktionär aus über 500 Worten, anhand deren Auftretenshäufigkeit sich Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Denkstrukturen machen lassen. Dabei sollen diese Worte unabhängig vom Inhalt des Textes sein, also neutrale empirische Stilmerkmale.
Es gibt dabei Worte, die für den dogmatoiden Stil sprechen: sogennante A-Ausdrücke und im Gegensatz dazu sogenannte B-Ausdrücke, die für den nichtdogmatoiden Stil stehen. Diese Worte sind in sechs verschiedene Kategorien eingeteilt, die folgende Tabelle 3 zeigt die Kategorien und Beispielworte:
Kategorie |
A |
B |
1 Häufigkeit, Dauer und Verbreitung |
beständig, immer, jederzeit, jedesmal, nie, niemals, ständig, stets, überall |
ausnahmsweise, gelegentlich, häufig meistens, oft, selten, vielfach |
2 Anzahl und Menge |
alle(), ausnahmslos, einzige(), ganz, jede(), jegliche(), niemand() |
einige(), einzelne(),etwas, gewisse(), mehrere(), teilweise, verschiedene() |
3 Grad und Maß |
absolut, grundlegend, prinzipiell, restlos, total, vollauf, vollständig |
besonders, einigermaßen, höchst, kaum, relativ, vorwiegend, weitgehend, |
4 Gewißheit |
ausgeschlossen, eindeutig, fraglos, gewiß, natürlich, unerläßlich |
denkbar, fraglich, möglich, offenbar vermutlich, wahrscheinlich |
5 Ausschluß, Einbeziehung u. Geltungsbereich |
allein, ausschließlich, entweder, lediglich, nur, uneingeschränkt |
andererseits, auch, außerdem, ebenfalls, einschließlich, gegebenenfalls |
6 Notwendigkeit u. Möglichkeit |
müssen, nicht dürfen, nicht können, nicht imstande sein |
dürfen, können, nicht brauchen, nicht müssen |
Tabelle 3: DOTA-Kategorien nach Ertel mit Beispielen
Diese Suchausdrücke lassen sich mit dem Textanalyseprogramm CoAn für Windows 2.0 (Matthias Romppel, 1998) bequem, schnell und zuverlässig ermitteln. Der Dogmatismuskoeffizient wird dann nach folgender Formel bestimmt:
Je höher der Koeffizient ist, um so größer ist die Neigung zum dogmatoiden Denken, wie oben beschrieben. In Abbildung 2 sind die Dota-Koeffizienten aus den Bundestagswahlprogrammen dargestellt.
Abb. 2: Dogmatismuswerte (DQ) in den Bundestagswahlprogrammen 1998 der Parteien.
Die Abbildung zeigt eindeutig: die Programme beiden rechten Parteien DVU und NPD haben den mit Abstand (Mann-Whitney-U-Test, p<0.05) am höchsten Dogmatismuskeoffizieten im Gegensatz zu den Programmen der demokratischen Parteien, deren Werte sich nicht signifikant unterscheiden. Auch hier wieder ein Beispiel: "Deutschland muß das Land der Deutschen bleiben!" (aus dem Wahlprogramm der DVU, Dota-Ausdruck: "muß", Kategorie 6A). Die Interpretation kann lauten: In den Wahlprogrammen der beiden rechten Parteien wird in extremen Ausmaß Schwarz-Weiß-Malerei betrieben, die Denkstrukturen sind einseitig, Widersprüche werden nicht geduldet.
In Zusammenfassung dieser kurzen Analyse läßt sich feststellen: Die Wahlprogramme zur Bundestagswahl (1998) der demokratischen Parteien PDS, Bündnis 90/Grüne, SPD, FDP und CDU unterscheiden sich hinsichtlich der Gottschalk-Gleser-Angstwerte und des Dogmatismusverfahrens signifikant von den Programmen der Parteien DVU und NPD: In den Programmen dieser beiden rechten Parteien wird in extrem dogmatischer Weise Wahlkampf betrieben mit der Angst der Wählerinnen und Wähler.
Ertel, S. (1972). Erkenntnis und Dogmatismus. Psychologische Rundschau, 23, 241--269.
Ertel, S. (1981). Prägnanztendenzen in Wahrnehmung und Bewußtsein. Zeitschrift für Semiotik, 3, 107-141.
Rokeach, M. (1960): The open and the close mind. New York: Basic books.
© 1998, Hendrik Berth, TU Dresden. Last update: 19.10.1998