Wolf Wagner & Hendrik Berth

 

 

 

 

Kulturschock Deutschland:

Empirische Betrachtungen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Adressen der Autoren:

 

 

Prof. Dr. Wolf Wagner

Dipl.-Psych. Hendrik Berth

Fachhochschule Erfurt

Technische Universität Dresden

FB Sozialwesen

Institut für Pädagogische Psychologie und

Altonaerstraße 25

Entwicklungspsychologie

PF 3683

Weberplatz 5

99013 Erfurt

01062 Dresden

Tel.: 0361/ 6 70 05 43

Tel./ Fax: 0351/ 4 63 29 53

Fax: 0361/ 6 70 05 33

 

Email: wagner@soz.fh-erfurt.de

Email: berth@rcs.urz.tu-dresden.de

 

 

Gliederung

 

 

Abstract

1

 

Keywords

1

1.

Einleitung

2

2.

Die Annahmen: Unterschiede in der deutsch-deutschen Alltagskultur

3

2.1

Grüßen

3

2.2

Alltagsgespräche

4

2.3

Geschlechterverhältnis

4

2.4

Sachlichkeit

5

2.5

Welt- und Selbstinterpretation

5

2.6

Selbstoffenbarung

6

2.7

Konfliktbereitschaft

6

2.8

Arbeitseinstellung

7

3.

Empirische Überprüfung der Annahmen

8

3.1

Methodik, Stichprobe

8

3.2

Ergebnisse des Ost-West-Vergleichs

9

3.3

Weitere Unterschiede

11

4.

Zusammenfassung

12

5.

Literatur

13

6.

Anhang

15

 

Fragebogen zur Alltagskultur

15

 

 

 

Abstract:

 

Acht Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sind sich Deutsche in Ost und West immer noch fremd. Diese oft als "Mauer in den Köpfen" bezeichnete Auffassung wird durch zahlreiche Untersuchungen belegt (einen Überblick dazu geben Berth & Esser, 1997). Die Unterschiede sind im Verhältnis zu den Gemeinsamkeiten natürlich gering, jedoch gravierend. Es sind oft die kleinen, eher unauffälligen Merkmale der Alltagskultur, die das Miteinander der Deutschen so schwer machen. Wagner (1996) listete eine ganze Reihe solcher Differenzen auf und belegte diese mit den Ergebnissen vorhandener Untersuchungen. In Vorbereitung einer deutschlandrepräsentativen Studie wurden mehr als 180 Studenten aus Ost- und Westdeutschland zu ihrem alltagskulturellen Handeln befragt. Die Ergebnisse belegen größtenteils die Gültigkeit der postulierten Unterschiede und zeigen Konsequenzen für zukünftige Forschungen auf.

 

 

Keywords:

 

Sozialpsychologie, Kulturvergleichende Psychologie, Politische Psychologie, Wiedervereinigung, Ostdeutschland, Westdeutschland, Neue Länder, Alltagskultur, Kulturschock, Umfrage, Fragebogen

 

 

 

Das Manuskript ist in dieser Form nicht zitierfähig.

 

1. Einleitung

 

 

Seit der Wende in der DDR und der deutschen Wiedervereinigung in den Jahren 1989/90 beschäftigen sich zahlreiche Wissenschaftler mit den sozialen, psychologischen und anderen Folgen dieses historischen Umbruchs. Einen Überblick über die Veröffentlichungen zum Thema geben Berth & Esser (1997). Den Stand der Forschung reflektieren zu wollen, ist in diesem Rahmen nicht möglich, zu groß ist die Anzahl der Befunde. Daher sei auf die einschlägigen zusammenfassenden Werke verwiesen wie z.B. Trommsdorff (1994), Schmitz (1995) oder auch Wagner (1996).

Die fast unüberschaubare Vielzahl von Studien widmet sich dabei den unterschiedlichsten Befindlichkeiten im Zusammenhang mit dieser Vereinigung. Der Schwerpunkt der Betrachtungen liegt hierbei meist auf den Auswirkungen auf die Bewohner der neuen Bundesländer. Diese Sichtweise hat ihre sachlogische Begründung in den wesentlich einschneidenderen Folgen der Wiedervereinigung für diese Personengruppe.

Eine Vereinigung ist jedoch immer eine Sache von beiden Partnern, daß es zu Mißstimmungen und Mißverständnissen kommt, kann nicht ausschließlich einem der beiden angelastet werden. Daher müssen bei der Suche nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen in West und Ost stets beide befragt werden. Nahezu alle deutsch-deutschen Untersuchungen widmen sich ausführlich einem relativ eingeschränkten Spektrum z.B. der Gerechtigkeitsforschung (s. z.B. Montada, 1997), der Denk- und Problemlösepsychologie (Strohschneider, 1996) oder dem Erziehungsverhalten (z.B. Brähler, 1995). Damit wird ein Bereich zwar sehr genau und meist methodisch zufriedenstellend durchleuchtet, aber der Blick für das Ganze geht verloren, denn es ist immer eine Summe von Mißverständnissen, die zu der sprichwörtlichen "Mauer in den Köpfen" führt.

 

 

2. Die Annahmen: Unterschiede in der deutsch-deutschen Alltagskultur

 

 

Ausgehend vom Kulturschock-Modell von Oberg (1960) postuliert Wagner einen ähnlichen kurvenförmigen Verlauf der kulturellen Angleichung der Deutschen in Ost und West. Die möglichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in verschiedenen Bereichen der Alltagskultur listet er in Form von Mißverständnismatrizen auf, die in Anlehnung an LeVine und Campell entstanden. Dabei werden in tabellarischer Form das Selbst- und Fremdbild der jeweiligen Gruppen als Grundlage möglicher Mißverständnisse gegenübergestellt.

Im folgenden sind alle Matrizen aus Wagner (1996) dargestellt, z. T. einige (empirische) Belege aus anderen Untersuchungen angeführt, und es wird ein Verweis gegeben auf die Fragen unseres Bogens (s. Anhang), die diese Unterschiede empirisch näher beleuchten sollen.

 

 

2.1 Grüßen

(s. Wagner, 1996, S. 141-142)

 

Grüßen

Westdeutsche

Ostdeutsche

geben sich nur beim formellen Vorstellen die Hand

geben sich jeden Tag beim ersten Treffen die Hand

Vorteil: Zwanglosigkeit, Kontakt zu ungeliebten Personen wird vermieden

Vorteil: größere Nähe, Beachtung für jede einzelne Person

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: locker, lässig, freundlich

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: freundlich, höflich, kameradschaftlich

bezeichnen Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als: steif, altmodisch, aufdringlich

bezeichnen Westdeutsche in diesem Zusammenhang als: arrogant, distanziert, unhöflich

 

 

 

Diese Unterschiede sollen durch die Frage 12 unseres Fragebogens überprüft werden. Empirische Belege existieren u. W. dazu noch nicht.

 

 

2.2 Alltagsgespräche

(s. Wagner 1996, S. 143-146)

 

Alltagsgespräche

Westdeutsche

Ostdeutsche

reden optimistisch und witzig über Unpersönliches, z. B. das Wetter, den Verkehr, die Politik, oder über nichts

jammern über das, was schiefgegangen ist, was fehlt und was man bräuchte, auch wenn es sehr persönlich ist

Vorteil: erzeugt eine positive Grundstimmung mit erhöhter Aufmerksamkeit für die Person

Vorteil: erzeugt Gemeinsamkeit und Nähe, entschärft mögliche Konkurrenz

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: fröhlich, witzig, geistreich, diskret

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: offen, freundlich, aufgeschlossen, egalitär

bezeichnen Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als: larmoyant, aufdringlich, unersättlich

bezeichnen Westdeutsche in diesem Zusammenhang als: unpersönlich, oberflächlich, angestrengt, maskenhaft

 

 

Empirische Belege für die in dieser Matrize postulierten Unterschiede finden sich in zahlreichen sprach- und kommunikationspsychologischen Arbeiten z.B. Müller (1994). Erfaßt wird dieser Aspekt hauptsächlich durch die Frage 7 unseres Bogens, tendenziell sind solche kommunikativen Aspekte aber auch in der Frage 8 eingeschlossen.

 

 

2.3 Geschlechterverhältnis

(s. Wagner 1996, S. 146-151)

 

Geschlechterverhältnis

Westdeutsche

Ostdeutsche

Männer und Frauen haben ein gespanntes Verhältnis, sie wollen zugleich emanzipiert und attraktiv sein, das Sexuelle ist tabuisiert, der Alltag ist erotisiert

Männer und Frauen verkehren kameradschaftlich miteinander; das Sexuelle ist kein Tabu, der Alltag ist dennoch harmlos und kaum erotisiert

Vorteil: Das Verhältnis ist immer spannend, da voller Ungewißheiten

Vorteil: Die Verhältnisse sind meist klar, es gibt große Bereiche ohne verwirrende Geschlechterspannung.

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: Frauen: emanzipiert, skeptisch, in Fehlschlägen erfahren, auf Attraktivität bedacht. Männer: vorsichtig, emanzipiert, auf Attraktivität bei sich und den Frauen bedacht

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: Frauen: emanzipiert, selbständig. Frauen und Männer: unkompliziert, direkt, kameradschaftlich, offen

bezeichnen Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als: Männer: sexistisch, chauvinistisch. Frauen: unemanzipiert, zurückgeblieben, männerhörig

bezeichnen Westdeutsche in diesem Zusammenhang als: Männer: sexistisch, angeberisch. Frauen: dogmatisch, besserwisserisch, egoistisch, scheinheilig

 

Belege für die in dieser Matrize postulierten Unterschiede sind u.a. dargestellt in Rohnstock (1994, 1995) oder Bütow & Stecker (1994). Diese hochinteressanten Aspekte deutsch-deutscher Unterschiede werden durch die Frage 13 betrachtet.

 

2.4 Sachlichkeit

(s. Wagner, 1996, S. 152-159)

 

Sachlichkeit

Westdeutsche

Ostdeutsche

stellen die Person vor die Sache

stellen die Sache vor die Person

Vorteil: Die Beziehungsebene ist direkter und von vornherein die Hauptsache, die Inhaltsebene läßt sich ohne Schaden für die Person abtrennen.

Vorteil: größere Konzentration auf die Sache, Inhaltsebene steht im Mittelpunkt

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: optimistisch, von der Sache überzeugt, selbstbewußt, auf das "Sich-verkaufen" konzentriert

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: sachlich, bescheiden, gegen das "Sich-Verkaufen" eingestellt.

bezeichnen Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als: kleinkariert, lamentierend, inkompetent

bezeichnen Westdeutsche in diesem Zusammenhang als: überheblich, angeberisch, unmoralisch

 

Empirische Belege für die in dieser Matrize postulierten Unterschiede fanden u.a. Rappensberger, v. Rosenstiel & Zwarg (1994). Diesem Aspekt wurde keine eigene Frage zugeordnet, er klingt jedoch stark in den Fragen 7-10 an und könnte über diese abgeleitet und beurteilt werden.

 

 

2.5 Welt- und Selbstinterpretation

(s. Wagner, 1996 S. 159-164)

 

Welt- und Selbstinterpretation

Westdeutsche

Ostdeutsche

Benutzen "ich" zur Beschreibung ihrer selbst, interpretieren sich und die Welt vorwiegend psychologisch und soziologisch, Elternrolle problematisch, nichts gilt als das, wie es erscheint

Benutzen "man", interpretieren sich und die Welt vorwiegend traditional oder nach materiellen Interessen, Elternrolle vorwiegend positiv besetzt, mehr Vertrauen in die äußere Erscheinung der Dinge

Vorteil: erzeugt ein starkes Selbstbild (mit großem Mißtrauen gegen andere)

Vorteil: erzeugt ein Weltbild mit berechenbaren Größen, gibt im Privaten Geborgenheit und Nähe

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: selbständig, unabhängig, sensibel, authentisch, kritisch (auch gegen das Elternhaus)

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: herzlich, gefühlvoll, zugewandt, mit guten Erinnerungen an das Elternhaus

bezeichnen Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als: altmodisch, unreflektiert, naiv, gefühlsduselig

bezeichnen Westdeutsche in diesem Zusammenhang als: kalt, berechnend, unzuverlässig, versponnen und kompliziert

 

Die Welt- und Selbstinterpretation wird durch die Frage 9 (Einzelinteressen vs. Gemeinwohl) untersucht.. Belege für die in dieser Matrize postulierten Unterschiede finden sich u.a. bei Maaz (1990) oder Spülbeck (1994).

 

2.6 Selbstoffenbarung

(s. Wagner, 1996 S. 164-167)

 

Selbstoffenbarung

Westdeutsche

Ostdeutsche

sind geübt in Selbstoffenbarung

Verschlossenheit als Ideal

Vorteil: Können sich in allen Situationen frei äußern und behalten die Kontrolle

Vorteil: Schutz und Stärkung der Privatsphäre für ehrliche Offenheit

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: offen, authentisch, sensibel, selbstbewußt

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: verschlossen, zurückhaltend, weniger bereit, etwas von sich preiszugeben

bezeichnen Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als: übertrieben zurückhaltend, verklemmte Eigenbrötler

bezeichnen Westdeutsche in diesem Zusammenhang als: schamlose Vielredner, Selbstdarsteller, die nicht zuhören, übertrieben selbstbewußt

 

 

Auch zur Selbstoffenbarung, die auf Ideen von Schulz von Thun (1981) aufbaut, finden sich Gedanken bereits bei Maaz (1990) oder Spülbeck (1994). Die Frage 8 des Bogens soll die hier postulierten Unterschiede untermauern.

 

 

2.7 Konfliktbereitschaft

(s. Wagner, 1996, S. 168-172)

 

Konfliktbereitschaft

Westdeutsche

Ostdeutsche

heben das Trennende hervor und sind zum Konflikt bereit

überspielen den Konflikt und betonen verbindende Rituale

Vorteil: nur das Unvermeidliche muß man sich gefallen lassen, klare Fronten, viel Aufregung

Vorteil: mehr Ruhe, freundliche und friedliche Beziehungen, mehr Spielraum, mehr Solidarität in der Gruppe

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: ehrlich, offen, direkt

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: solidarisch, freundlich, hilfsbereit, kompromißbereit

bezeichnen Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als: feige, verschlossen, falsch, opportunistisch

bezeichnen Westdeutsche in diesem Zusammenhang als: selbständig, durchsetzungsfähig, aggressiv, ständig zur Kritik bereit, besserwisserisch

 

Empirische Belege für die in dieser Matrize postulierten Unterschiede fanden u.a. Gebhardt & Kamphausen (1994) oder Wottawa (1994). Erfaßt werden sollen diese mit Frage 10. Frage 8 enthält aber ebenfalls Anteile, die auf unterschiedliche Konfliktbereitschaft bei Ost- und Westdeutschen abzielen.

 

 

2.8 Arbeitseinstellung

(s. Wagner, 1996, S. 172-177)

 

Arbeitseinstellung

Westdeutsche

Ostdeutsche

stärker ergebnisorientiert: Das " richtige" Ergebnis gilt als Erfolg

Stärker verhaltensorientiert: Das "richtige" Verhalten gilt als Erfolg.

Vorteil: Spielraum für Eigeninitiative, Selbständigkeit und Verantwortung

Vorteil: soziale Kompetenz, Lernbereitschaft und Lernfähigkeit, da zu variablem Verhalten bereit

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: verantwortlich, einsatzbereit, zielorientiert, kreativ, selbständig, geschäftstüchtig

bezeichnen sich selbst in diesem Zusammenhang als: zurückhaltend, beobachtend, anpassungsbereit, nicht geschäftstüchtig

bezeichnen Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als: zögernd-zurückhaltend, sehr empfindlich, wenig flexibel, bereit Mißstände hinzunehmen, unselbständig, abhängig von Vorgaben, nicht geschäftstüchtig

bezeichnen Westdeutsche in diesem Zusammenhang als: geschäftstüchtig, entscheidungsfixiert, machthungrig, arrogant, formalistisch, selbstdarstellerisch

 

 

Die Arbeitseinstellung, ein sehr umfangreich im deutsch-deutschen Vergleich untersuchter Bereich, wird mit der Frage 11 hinterfragt. Weitere Hinweise auf solche Differenzen findet man u.a. bei Wottawa (1994), Frese (1993), Frese u.a. (1994) oder Frese & Hilligloh (1994).

 

 

3. Empirische Überprüfung

  1. Methodik, Stichprobe

 

Eingesetzt wurde der in Anhang abgebildete "Fragebogen zur Alltagskultur". Hauptkriterium war bei dessen Entwicklung neben den inhaltlichen Fragen vor allem auch die Ökonomie, um evtl. durchzuführende deutschlandrepräsentative Erhebungen so kostengünstig wie möglich zu gestalten.

Versuchspersonen waren nahezu ausschließlich Studenten verschiedener Fachrichtungen aus Erfurt (N=85; 45,7%), Dresden (N=16; 8,6%), Göttingen (N=42; 22,6%) und Koblenz (N=43; 32,1%). Insgesamt füllten 186 Personen diesen Bogen aus. Davon waren 72,6% (N=135) weiblich und 27,4% (N=51) männlich. Das Durchschnittsalter betrug 23,2 Jahre, die meisten Versuchspersonen (92,5%) waren ledig.

103 Personen (55,4%) gaben an, in Ostdeutschland aufgewachsen zu sein (Frage 3 des Bogens), 79 Personen (42,5%) wuchsen in Westdeutschland auf. 3 Personen waren keine Deutschen, 1 machte keine Angaben. Diese Daten wurden bei der weiteren Analyse ausgeschlossen. Abbildung 1 zeigt die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften, getrennt nach Ost- und Westdeutschen:

Abbildung 1: Religionszugehörigkeit der Versuchspersonen, Angaben in Prozent

 

Westdeutsche geben signifikant (Chi-Quadrat-Test) häufiger an, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, als die ostdeutschen Befragten. Die westdeutschen Versuchspersonen sind mit einem Durchschnittswert von 24,8 Jahren älter als die Ostdeutschen (21,8 Jahre). Hinsichtlich weiterer Versuchspersonencharakteristika gab es keine Unterschiede, wobei z. B. geprüft wurde, ob Männer und Frauen sich hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft unterscheiden oder ob gleich viele Männer und Frauen in der ost- und westdeutschen Stichprobe vorhanden waren.

 

3.2 Ergebnisse des Ost-West-Vergleichs

 

Eingegangen wird nur auf die Ergebnisse zu den Matrizen, denen eine eigenständige Frage zugeordnet war. Der Aspekt "Sachlichkeit", der aus anderen Fragen abgeleitet werden könnte, wird nicht betrachtet.

Zu den Unterschieden hinsichtlich der Versuchspersonenmerkmale wurde unter 3.1 Stellung genommen. Hier folgen nun die Ergebnisse für die eigentlichen inhaltlichen Fragen des Bogens (Fragen 7 bis 13).

Wie im Fragebogen (s. Anhang) ersichtlich, wurden die Antwortmöglichkeiten zwischen den zwei polaren Alternativen so kodiert, daß sich als Mittelwert Null ergab. Abweichungen von diesem Mittelwert sprechen also für Antworttendenzen in eine Richtung. Die Ergebnisse werden in der folgenden Tabelle dargestellt.

 

Frage

Ostdeutsche

Westdeutsche

Frage 7: Alltagsgespräche

-0,56

-0,28

Frage 8: Selbstoffenbarung

0,50

0,44

Frage 9: Welt- und Selbstinterpretation

-0,50

-0,62

Frage 10: Konfliktbereitschaft

1,27

1,81

Frage 11: Arbeitseinstellung

-1,62

-2,04

Frage 12: Grüßen

0,63

-0,48

Frage 13: Geschlechterverhältnis

0,55

0,62

 

Tabelle: Antworten im Fragebogen zur Alltagskultur (Mittelwerte) für Ost- und Westdeutsche.

 

 

Bei Frage 7 tendieren beide Gruppen eher dazu anzugeben "Bei Alltagsgesprächen reden wir meist über Mängel und Mißstände.", die Ostdeutschen dabei erwartungsgemäß etwas stärker. Der Unterschied ist hier nicht signifikant.

Ein ganz ähnliches Bild zeigt sich auch bei der Selbstoffenbarung (Frage 8). Wiederum geben sowohl West- als auch Ostdeutsche an, beim Diskutieren eher auf die sachlichen Argumente zu achten. Erwartungsgemäß stimmen auch hier die Ostdeutschen dieser Aussage stärker zu. Auch dieser Unterschied ist nicht signifikant.

Ebenfalls nicht statistisch bedeutsam ist der Unterschied der Mittelwerte bei der Frage 9 zur Welt- und Selbstinterpretation. Beide Gruppen tendieren eher dazu der Aussage: "Die Einzelinteressen sollten hinter dem Gemeinwohl zurückstehen." zuzustimmen. Dabei ist, entgegen unserer Annahmen, die Zustimmung seitens der westdeutschen Versuchspersonen etwas größer.

Auch bei der Frage 13 zum Geschlechterverhältnis, operationalisiert über die Frage, ob die korrekte Geschlechterbezeichnung nun wichtig oder unwichtig sei, sind sich Ost- und Westdeutsche erstaunlich einig. Die Differenz der Mittelwerte (Mann-Whitney-U-Test) ist nicht signifikant. Westdeutsche tendieren dabei erwartungsgemäß ein klein wenig stärker dazu, die korrekte Geschlechterbezeichnung für wichtig zu halten.

Signifikant sind die Unterschiede bei den Fragen zu Konfliktbereitschaft, Arbeitseinstellung und Grüßen. Beide Gruppen stimmen bei der Frage 10 eher der Aussage zu: "Konflikte sollten ausgetragen werden". Westdeutsche allerdings erwartungsgemäß signifikant häufiger als die ostdeutschen Probanden.

Konform zu unseren Annahmen, wie in der entsprechenden Matrize dargestellt, sehen die Antwortmuster bei der Arbeitseinstellung aus. Sowohl den Ost- als auch den Westdeutschen ist es lieber, auf Arbeit das Ziel genannt zu bekommen und die einzelnen Arbeitsschritte selbst zu bestimmen. Die im Westen Deutschlands aufgewachsenen Versuchspersonen stimmen dieser Aussage jedoch viel häufiger zu als die Befragten aus Ostdeutschland, von denen eine beträchtliche Anzahl zu dem typischen ostdeutschen Muster tendierte: "Auf Arbeit ist es mir lieber, ich erhalte Anweisungen für die meisten Arbeitsschritte".

Die deutlichsten Ost-/Westdifferenzen (p=0.0001) gibt es in Beantwortung der Frage 12. Die Westdeutschen gaben mehrheitlich an, nur bei sehr förmlichen Anlässen, wie bei Gratulationen oder beim ersten Vorstellen, die Hand zu geben. Die Ostdeutschen hingegen neigen viel stärker dazu, bei Begrüßung und Verabschiedung meistens die Hand zu geben.

 

 

 

3.3 Weitere Unterschiede

 

Wie unter 3.1 dargestellt, unterscheiden sich die Versuchspersonen aus den beiden Teilen Deutschlands signifikant (p=0.0004) hinsichtlich der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Um sicherzugehen, daß die hier gefundenen Unterschiede auch wirklich auf das Aufwachsen in unterschiedlichen Teilen zurückzuführen sind und nicht etwa auf eine unterschiedliche religiös bedingte Sozialisation, wurde daher geprüft, ob sich bei der Beantwortung der Fragen Unterschiede zwischen Personen ergaben, die einer Religionsgemeinschaft angehören, und denen, die konfessionslos sind. Es wurden keine signifikanten Unterschiede gefunden, so daß diese Möglichkeit ausgeschlossen werden kann. Gleiches gilt für die Beeinflussung durch die Versuchspersonenvariable Alter. Die Beantwortung der Fragen ist davon nicht abhängig.

Gesucht wurde ebenfalls nach Unterschieden, die Männer und Frauen in der Beantwortung der Fragen machten. Signifikante Differenzen (für die Gesamtgruppe aller Probanden) fanden sich in Auswertung der Fragen 9 und 13. Hinsichtlich des Verhältnisses von Einzelinteresse und Gemeinwohl äußerten beide Geschlechter häufiger, daß die Einzelinteressen hinter dem Gemeinwohl zurückstehen sollten, die männlichen Probanden (MW= -0,86) taten dies jedoch noch wesentlich öfter als die weiblichen (MW=-0,418).

Nicht verwunderlich ist der Unterschied bei der Frage zum Geschlechterverhältnis. Männer, die durch das Problem der korrekten Geschlechterbezeichnung ("StudentInnen") sicher weit weniger betroffen sind, gaben hier signifikant häufiger an, daß sie dies für unwichtig hielten (MW=1,34). Jedoch tendieren auch die Frauen eher dazu, dieses Benennungsproblem für nicht so wichtig zu erachten (MW=0,28).

Da sich die ost- und westdeutsche Stichprobe hinsichtlich der Variable Geschlecht jedoch nicht unterscheidet, d. h. es sind in beiden Gruppen gleich viele Frauen und Männer, sind diese Unterschiede für unsere Belange nicht von Bedeutung.

 

4. Zusammenfassung

 

Wagner (1996) postulierte eine Reihe von Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen, die sich in alltäglichen Erlebens- und Verhaltensmustern niederschlagen sollten. Diese Differenzen umfassen die Bereiche: Grüßen, Alltagsgespräche, Geschlechterverhältnis, Sachlichkeit, Welt- und Selbstinterpretation, Selbstoffenbarung, Konfliktbereitschaft und Arbeitseinstellung.

Hier wurden die ersten Ergebnisse einer Fragebogenstudie skizziert, die in Vorbereitung einer deutschlandrepräsentativen Erhebung versuchte, mittels sieben kurzer inhaltlicher Fragen, die von Wagner (1996) behaupteten deutsch-deutschen Unterschiede empirisch näher zu beleuchten.

Versuchspersonen waren 186 Studenten aus vier deutschen Städten (Dresden, Erfurt, Koblenz und Göttingen). Die befragten Westdeutschen sind im Mittel etwas älter und gaben öfter an, einer Religionsgemeinschaft anzugehören als die Ostdeutschen.

Die Unterschiede zwischen den Deutschen aus Ost und West wurden über die Mittelwertdifferenzen in einem eigens entwickelten Fragebogen operationalisiert. Mit Ausnahme bei dem Item zur Welt- und Selbstinterpretation sind alle Werte erwartungsgemäß und bestätigen unsere Annahmen. Signifikant sind die Differenzen jedoch nur bei den Fragen zum Grüßen, zu Konflikten (Westdeutsche meinten mehr als Ostdeutsche, daß Konflikte ausgetragen werden sollten) und zur Arbeitseinstellung (Westdeutsche tendieren häufiger zu einem zielorientiertem Arbeitsstil). Die deutlichsten Unterschiede gab es hinsichtlich des Grüßens: Während Ostdeutsche fast immer zur Begrüßung und Verabschiedung die Hand geben, tun dies Westdeutsche meist nur bei förmlichen Anlässen.

Unterschiede hinsichtlich der Beantwortung der Fragen gab es zwischen den religiös gebundenen und den Personen, die keiner Religionsgemeinschaft angehörten, nicht. Männer und Frauen unterschieden sich in Beantwortung der Fragen 9 (Einzelinteressen vs. Gemeinwohl) und Frage 13 (Korrekte Geschlechterbezeichnung wichtig oder unwichtig).

Alle hier gefunden Differenzen stammen jedoch aus einer Untersuchung mit einer kleinen, nichtrepräsentativen Stichprobe. Verwendet wurde ein neukonstruierter Fragebogen. Weitere Forschungen müssen folgen, um von einer empirischen Bestätigung unserer Annahmen sprechen zu können.

 

5. Literatur

 

 

Berth, H. & Esser, U. (1997): Die deutsche Wiedervereinigung. Auswahlbibliographie sozialwissenschaftlicher Literatur. Forschungsbericht Nr. 15 des Instituts für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der TU Dresden. (auch als Online-Document, URL http://physik.phy.tu-dresden.de/psycho/esser7.html)

Brähler, E. (1995): Das erinnerte elterliche Erziehungsverhalten und die Lebenszufriedenheit von Studierenden der Medizin in den alten und neuen Bundesländern. In: E. Brähler & H.-J. Wirth (Hrsg.): Entsolidarisierung - die Westdeutschen am Vorabend der Wende. Opladen: Leske + Budrich.

Bütow, B. & Stecker, H. (Hrsg.) (1994): EigenArtige Ostfrauen. Frauenemanzipation in der DDR und den neuen Bundesländern. Bielefeld: Kleine.

Frese, M. & Hilligloh, S. (1994): Eigeninitiative am Arbeitsplatz im Osten und Westen Deutschlands. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. In. G. Trommsdorff (Hrsg.:) Psychologische Aspekte des sozio-politischen Wandels in Ostdeutschland. S. 200-215. Berlin: De Gryuter.

Frese, M. (1993): Das Rezept für den Osten: Eigeninitiative. In: Psychologie heute. 3/93. S. 52-59.

Frese, M.; Erbe-Heinbokel, M.; Grefe, J.; Rybowiak, V. & Weike, A. (1994): "Mir ist es lieber, wenn ich genau gesagt bekomme, was ich tun muß": Probleme der Akzeptanz von Verantwortungs- und Handlungsspielraum in Ost und West. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie. 1/94. S- 22-33.

Gebhardt, W. & Kamphausen, G. (1994): Mentalitätsunterschiede im wiedervereinigten Deutschland? Das Beispiel zweier ländlicher Gemeinden. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Beilage zur Wochenzeitung das Parlament. Bd. 16/94. S. 29-39.

Maaz, H.-J. (1990): Der Gefühlsstau - Ein Psychogramm der DDR. Berlin. Argon.

Montada, L. (1997): Gerechtigkeitsansprüche und Ungerechtigkeitserleben in den neuen Bundesländern. In: W. R. Heinz & S. E. Hormuth (Hrsg.): Arbeit und Gerechtigkeit im ostdeutschen Transformationsprozeß. S. 231-274. Opladen: Leske + Budrich.

Müller, G. (1994): Der "Besserwessi und die "innere Mauer". In: Muttersprache 2/94, S. 118-135.

Oberg, K. (1960): Cultural shock: adjustments to new cultural environments. In: Practical Anthropology, Bd. 7/1960. S. 177-182.

Rappensberger, G.; v. Rosenstiel, L. & Zwarg, I. (1994): Erwartungen an die berufliche Tätigkeit bei Hochschulabsolventen aus den neuen Bundesländern. In. G. Trommsdorff (Hrsg.:) Psychologische Aspekte des sozio-politischen Wandels in Ostdeutschland. S. 183-199. Berlin: De Gryuter.

Rohnstock, K. (1994): Stiefschwestern - Was Ost-Frauen und West-Frauen voneinander denken. Frankfurt a. M.: Fischer.

Rohnstock, K. (Hrsg.) (1995): Stiefbrüder - Was Ostmänner und Westmänner voneinander denken. Berlin: Elefantenpress.

Schmitz, M. (1995): Wendestress. Die psychosozialen Kosten der deutschen Einheit. Berlin: Rowohlt.

Schulz von Thun, F. (1981): Miteinander reden. Reinbeck bei Hamburg; Rowohlt.

Spülbeck, S. (1994): Stasi, Witchraft and Antisemitism: Xenophobie in a Village in Thuringia. In: East European Affairs, Vol. 24, No. 1/1994, S. 91-98.

Strohschneider, S. (Hrsg.) (1996): Denken in Deutschland. Vergleichende Untersuchungen in Ost und West. Bern: Huber.

Trommsdorff, G. (Hrsg.) (1994): Psychologische Aspekte des sozio-politischen Wandels in Ostdeutschland. Berlin: De Gryuter.

Wagner, W. (1996): Kulturschock Deutschland. Hamburg: Rotbuch.

Wottawa, H. (1994): Veränderungen und Veränderbarkeit berufsrelevanter Eigenschaften im Ost-Westvergleich. In. G. Trommsdorff (Hrsg.:) Psychologische Aspekte des sozio-politischen Wandels in Ostdeutschland. S. 216-228. Berlin: De Gryuter.

 

6. Anhang

TECHNISCHE

UNIVERSITÄT

DRESDEN

Dipl.-Psych. Hendrik Berth, Prof. Dr. Ulrich Esser & Prof. Dr. Wolf Wagner

 

Fragebogen zur Alltagskultur

 

Lieber Untersuchungsteilnehmer, liebe Untersuchungsteilnehmerin,

 

Mit diesem Bogen möchten wir etwas über einige Ihrer Einstellungen und Verhaltensweisen aus dem Bereich der Alltagskultur erfahren. Nach wenigen Fragen zu Ihrer Person finden Sie eine Reihe von Aussagepaaren ganz verschiedener Art, zu denen wir Ihre Zustimmung oder Ablehnung wissen möchten. Bitte kreuzen Sie in jeder Zeile nur ein Kästchen an, nämlich das, das der Aussage am nächsten steht, die Ihrer Meinung am besten entspricht. Es gibt dabei keine richtigen oder falschen Antworten, entscheidend ist Ihre aktuelle Einschätzung.

 

Angaben zur Person

1. Ihr Geschlecht:

männlich

 

2. Ihr Alter:

 

Jahre.

 

weiblich

       

 

3. Sie sind aufgewachsen in:

Ostdeutschland

Westdeutschland

 

4. Ihr Familienstand:

   

5. Ihr derzeitiger Beruf:

 

 

6. Ihre Religion:

evangelisch

katholisch

keine

 

eine andere und zwar:

 

 

Was trifft für Sie eher zu ?

 

7. Bei Alltagsgesprächen reden wir meist über Mängel und Mißstände.

 

 

-3

 

-2

 

-1

 

0

 

+1

 

+2

 

+3

 

Bei Alltagsgesprächen reden wir meist über Leichtes und Nichtigkeiten.

                     

8. Beim Diskutieren mit anderen achte ich vor allem auf die Reaktionen der Diskutierenden.

 

 

-3

 

-2

 

-1

 

0

 

+1

 

+2

 

+3

 

Beim Diskutieren mit anderen achte ich vor allem auf die sachlichen Argumente.

                     

9. Die Einzelinteressen sollten hinter dem Gemeinwohl zurückstehen.

 

 

-3

 

-2

 

-1

 

0

 

+1

 

+2

 

+3

 

Die Einzelinteressen sind wichtiger als das Gemeinwohl.

                     

10. Konflikte sollten vermieden werden.

 

-3

-2

-1

0

+1

+2

+3

 

Konflikte sollten ausgetragen werden.

                     

11. Auf Arbeit ist es mir lieber, ich kenne das Ziel und bestimme die Arbeitsschritte selbst.

 

 

-3

 

-2

 

-1

 

0

 

+1

 

+2

 

+3

 

Auf Arbeit ist es mir lieber, ich erhalte Anweisungen für die meisten Arbeitsschritte.

                     

12. Beim Grüßen gebe ich nur bei sehr förmlichen Anlässen die Hand, wie bei Gratulationen oder beim ersten Vorstellen.

 

 

-3

 

-2

 

-1

 

0

 

+1

 

+2

 

+3

 

Beim Grüßen gebe ich eigentlich immer zur Begrüßung und Verabschiedung die Hand.

                     

13. Ich halte die korrekte Geschlechterbezeichnung für wichtig.

 

-3

-2

-1

0

+1

+2

+3

 

Ich halte die korrekte Geschlechterbezeichnung für unwichtig.