Angst vor der Zukunft. Deutsch-deutsche Vergleiche

 

Hendrik Berth

Technische Universität Dresden

Weberplatz 5

01062 Dresden

 

Das Erfassen von Befindlichkeiten und Erlebensprozessen im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung beschäftigt seit Jahren zahlreiche Wissenschaftler. Empirische inhaltsanalytische Arbeiten zum Thema gibt es jedoch relativ wenige. Zum breiten Spektrum von Emotionen und Affekten und deren Veränderung und Entwicklung im Rahmen der Wiedervereinigung existiert nur eine kleine Zahl an Studien. Daher werden hier einige Analysen vorgestellt, die mit der Gottschalk-Gleser-Sprachinhaltsanalyse (Gottschalk & Gleser 1969) an Texten zur Wiedervereinigung durchgeführt wurden.

Dieses Verfahren zur Messung von ängstlichen und aggressiven Affekten wurde 1969 (Gottschalk & Gleser, 1969) vorgestellt. Affekte sind hierbei "feeling states that have attributes of quality and quantity." (Gottschalk & Gleser, 1969, S. 14). Die Größe eines Affektes wird aus dem Transkript eines gesprochenen Textes abgeleitet, ohne daß parasprachliche Variablen berücksichtigt werden. Wichtige Grundannahmen des Verfahrens sind, daß sich Affekte auf das Denken und die Sprache eines Individuums auswirken und sich durch die Erfassung des Redeverhaltens messen lassen. Die Affektstärke lässt sich bestimmen aus dem Produkt der Auftretenshäufigkeit eines Affekts und seinem zahlenmäßigen Gewicht, das sich aus der persönlichen Beteiligung des Textproduzenten ergibt.

Wir konzentrieren uns auf die Angstskala des Verfahrens, innerhalb derer nochmals sechs verschiedene Angstformen unterschieden werden: Todesangst, Verletzungsangst, Trennungsangst, Schuldangst, Angst vor Scham/Schande und Diffuse Angst. In jeder dieser Angstkategorien wird differenziert, ob diese Angst erlebt worden oder aufgetreten ist bei a) dem Sprechenden, b) anderen Lebewesen, c) unbelebten Objekten oder ob es sich d) um eine Verneinung oder Verleugnung von Angst handelt.

Ein zu analysierender Text wird nach sehr strengen Regeln von einem Beurteiler daraufhin untersucht, ob der Inhalt angstrelevant ist und bei wem diese Angst aufgetreten ist. Ergebnis der Analyse sind Rohwerte für jede der Angstkategorien und ein Gesamtangstwert, die nach einer Formel zu Scores verrechnet werden.

Die Inhaltsanalyse nach Gottschalk und Gleser ist ein sehr aufwendiges Verfahren, das sowohl in der Durchführung viel Zeit benötigt, als auch eine große Erfahrung beim Anwender voraussetzt. Um die Methode auch an größeren Stichproben einsetzen zu können, begannen wir deshalb die Entwicklung einer Computerversion.

Unser Instrument trägt den Namen "Dresdner Angstwörterbuch (DAW)", seine bisherige Entwicklung ist ausführlich in Berth (1998) beschrieben. Das DAW ist, vereinfacht dargestellt, eine Wortliste, die in ihrer aktuellen Version 5952 Lemmata (5535 für die Angst und 417 für die Gewichtung) aller Wortklassen enthält, wobei auch Mehrwortausdrücke und kurze Phrasen erfasst werden. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Angstkategorien des DAW.

 

Kategorie

Anzahl Suchausdrücke

Beispiele

Validität

Todesangst

596

abmurksen, verstorben

 

0.842**

Verletzungsangst

1079

Amputation, Wunde

 

0.867**

Trennungsangst

1446

auswandern, verschwunden

 

0.782**

Schuldangst

929

Wiedergutmachung, geradestehen

 

0.576**

Schamangst

1047

zurechtweisen, schlechte Zensuren

 

0.600**

Diffuse Angst

438

fürchten, Haare zu Berge stehen

 

0.891**

Gesamt

5535

-

 

0.592**

 

Tabelle 1: Angstkategorien des DAW, Aufbau, Beispiele, Validität (Pearson-Korrelationen, ** Signifikanz auf dem 1%-Niveau).

 

 

Zur Überprüfung der Gütekriterien des Instruments wurden 116 bereits manuell ausgewertete Texte herangezogen, die mit dem DAW re-analysiert wurden. Vom DAW als computerbasierten Verfahren werden stets die gleichen Algorithmen und Kodierungen durchgeführt, daher sind Objektivität und Reliabilität als maximal anzusehen. Von besonderer Bedeutung ist daher die (konvergente) Validität, die über die Übereinstimmung (Pearson-Korrelationen) zwischen den manuellen Kodierungen und den automatischen Kodierungen des DAW bestimmten. Die Ergebnisse (vgl. Tabelle 1) sind zufriedenstellend.

In Fortsetzung und Erweiterung von der von Berth (1999) vorgenommenen Analysen werden im Beitrag die Ergebnisse verschiedener sekundäranalytischer und eigener Studien vorgestellt. Das sekundäranalytisch bearbeitete Textmaterial waren a) 20 Aufsätze von AbiturientInnen im Alter von 18 bis 20 Jahren aus Ost- und Westberlin (Thema: "Lebensentwürfe", ca. 41.000 Worte, 1990), b) 100 Aufsätze von SchülerInnen der 9. - 12. Klasse aus Rheinland-Pfalz und Thüringen (Thema: "Ein Jahr deutsche Einheit - was fällt mir dazu ein?", ca. 28.000 Worte, 1990) und c) 410 Interviewprotokolle von Ost- und Westdeutschen (Thema: "Erlebnisse mit Ost- bzw. Westdeutschen", ca. 76.000 Worte, 1992).

Bei allen diesen Textstichproben, die sich inhaltlich auf das Erleben der Wiedervereinigung bei Ost- und Westdeutschen beziehen, finden sich kaum Unterschiede zwischen Ost- Und Westdeutschen. Eine Hypothese wie: Ostdeutsche haben beim Berichten über die Wiedervereinigung mehr Angstaffekte, läßt sich nicht bestätigen.

Übereinstimmend zeigt sich in allen drei Textkorpussen das folgende Affektmuster: Ostdeutsche haben einen signifikant höheren Score bei der Verletzungsangst (Mann-Whitney-U-Test, p<0.05), wohingegen im Bereich der diffusen Angst der Wert der Westdeutschen signifikant größer ist. In allen anderen Skalen und bezüglich des Gesamtwertes finden sich keine Unterschiede.

Verletzungsangst im Gottschalk-Gleser-Verfahren hat zu tun mit Inhalten, die von physischer Verletzung handeln. Der höhere Wert der ostdeutschen SchülerInnen signalisiert (bei genauerer qualitativer Betrachtung) vor allem eine große Furcht vor steigender Kriminalität und Gewalt. Eine eindeutige Erklärung für den signifikant höheren Wert der Westdeutschen im Bereich der diffusen Angst bietet sich nicht. In dieser Kategorie werden Wörter oder Sätze erfaßt, in denen Angst oder Furcht ohne Charakterisierung der Art oder der Quelle erwähnt werden. Hier können sich einerseits Kommunikationsmuster niederschlagen, wie z. B. die sprachliche Eigenart, viele Dinge "schrecklich" oder "fürchterlich" zu finden. Andererseits finden sich in den Texten bei qualitativer Betrachtung viele Ängste und Befürchtungen, die sich auf Ostdeutschland bzw. auf Sorgen von Ostdeutschen beziehen. Aber auch eine allgemeine unspezifische Angst der Westdeutschen vor den Folgen der Wiedervereinigung wird sichtbar.

In den Jahren 1991/92 und 1997/98 wurde eine Fragebogenuntersuchung bei Dresdner StudentInnen (Durchschnittsalter 23 Jahre) zum Thema "Deutsche Wiedervereinigung und politischer Sprachgebrauch" durchgeführt. Bestandteil des Bogen waren u. a. drei zu schreibende Aufsätze mit den Themen "Sozialismus in der DDR", "Die Wende" und "Hoffnungen für die Zukunft". Insgesamt liegen uns über 300 solcher Fragebogen mit nahezu 1000 Aufsätzen (ca. 97.000 Worte) vor. Abbildung 1 zeigt die Gottschalk-Gleser-Angstscores (Gesamtwert) für die beiden Erhebungszeiträume und die drei Aufsatzthemen.

 

 

Abbildung 1: Angstgesamtwerte nach Gottschalk-Gleser (Mittelwerte) in Texten Dresdner StudentInnen zu den Themen "Sozialismus in der DDR", "Die Wende" und "Hoffnungen für die Zukunft", 1991/92 und 1997/98.

 

Hier zeigt sich im längsschnittlichen Vergleich eine interessante Tendenz, was die Bewertung von Sozialismus, Wende und Zukunft anbelangt. Der Sozialismus in der DDR war 1991 ein relativ angstbesetztes Thema. Dieser Angstscore ist in den neueren Texten signifikant niedriger als 1991/92 (Mann-Whitney-U-Test, p<0.05). Bei der qualitativen Textbetrachtung zeigt sich eine deutliche Tendenz, negative Aspekte nicht mehr so stark wahrzunehmen und in den Texten zu benennen, der Sozialismus in der DDR wird positiver gesehen.

Bei den Aufsätzen zum Thema "Die Wende" unterscheiden sich alte und neue Texte nicht, die Wende ist in beiden Stichproben eine nicht sonderlich angstauslösende Thematik. Das beim dritten Aufsatz vorgegeben Thema lautete "Hoffnungen für die Zukunft". In den Texten finden sich auch Schilderungen von Hoffnungen verschiedenster Art. Jedoch ist dieses Thema sowohl 1991/92 als auch 1997/98 das signifikant angstbeladenste. Ihrer Zukunft sahen und sehen die Jugendlichen mit Furcht und zahlreichen Sorgen entgegen. Für 1991/92 ließe sich dieser Befund noch mit den damals wendebedingt allgemein herrschenden Unsicherheiten und Unwägbarkeiten erklären. Der Angstwert ist in den neueren Texten zur Zukunft jedoch sogar noch tendenziell höher als 1991/92. Die Interpretationsmöglichkeiten für dieses Ergebnis sind vielfältig, vom Versagen der Politik und Gesellschaft im Bereich der Jugendförderung, bis hin zu allgemein eher pessimistischen Einstellungen und Zukunftserwartungen ostdeutscher Jugendlicher.

 

Literatur

 

Berth, H. (1998): Das Dresdner Angstwörterbuch (DAW). Ein Versuch zur textinhaltsanalytischen Erfassung von Angst. Forschungsbericht Nr. 22 des Instituts für Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie der Technischen Universität Dresden.

Berth, H. (1999): Die Angst vor der Wiedervereinigung. Inhaltsanalytische Überlegungen. In: A. Hessel, M. Geyer & E. Brähler (Hrsg.): Gewinne und Verluste sozialen Wandels. Globalisierung und deutsche Wiedervereinigung aus psychosozialer Sicht. S. 124-139. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Gottschalk, L. A. & Gleser, G. C. (1969): The Measurement of Psychological States trough the Content Analysis of Verbal Behavior. Los Angeles: University of California Press.